Klassisch Indischer Tanz

Der klassisch indische Tanz, eine der hoch entwickeltsten Kunstformen der indischen Kultur, ist eine antike und komplizierte Kunstform, deren Wurzeln mehrere Jahrtausende zurückreichen. In Indien hat der klassische Tanz einen religiösen Ursprung. Er ist in der Hindu-Mythologie eine heilige Handlung, die älter ist als die Erde selbst und stellt eine Form von Kommunikation mit den Göttern dar. Dementsprechend soll Shiva, der Gott der Schöpfung und Zerstörung, die Welt mit seinem Tanz zerstört und wiedererschaffen haben. Überwiegend entstand der Tanz in den Tempeln und wurde von den Devadasis (Tempeltänzerinnen) getanzt, die ihn mit mythologischen, philosophischen und spirituellen Anschauungen der Hindukultur verknüpften. Längst ist der Tanz aus den Tempeln auf die weltlichen Bühnen umgesiedelt. Dennoch ist sein religiöser Charakter kaum zu leugnen. Selbst für die prominentesten Tänzerinnen bleibt der Tanz eine Art göttlicher Dienst und jede Aufführung beginnt mit der Andacht der Götter.

1. Die acht indischen Tanzstile // 2. Devadasis – Die Geschichte des klassisch Indischen Tanzes //
3. Natyashastra – Grundlagen des klassisch Indischen Tanzes // 4. Literatur

1. Die acht indischen Tanzstile

In Indien haben sich acht klassisch indische Tanzstile herausgebildet: Bharatanatyam (Tamil Nadu), Kuchipudi (Andhra Pradesh), Kathak (Norden), Odissi (Orissa), Manipuri (Nord-Osten), Sattriya (Nord-Osten), Kathakali (Kerala) und Mohiniyattam (Kerala). Die riesige geografische Fläche Indiens ist gekennzeichnet durch eine enorme Vielfalt an Landschaften, Völkern, Kulturen und Sprachen. Dies spiegelt sich in verschiedenen Kunst- und Tanzformen wider. Somit haben klassisch indische Tänze ihren Ursprung in lokal weit verbreitenden Volkskunstformen, die durch soziale, politische, religiöse Einflüsse und Verhaltensmuster der Menschen der Region beeinflusst wurden. Die klassischen Tanzformen haben diese Eigenschaften und Besonderheiten aufgenommen und daraus eine klare und eigene Charakteristik entwickelt. Obwohl die jeweiligen Tanzstile ihre unverwechselbare Technik und Darstellung besitzen, folgen sie immer den Grundregeln und Richtlinien des Natyashastra. Neben den klassischen Tänzen gibt es bis heute unzählige Volkstänze, darunter Gesellschaftstänze zu Festlichkeiten wie Hochzeiten, Tänze für die Arbeit, für Frauen oder Männer.

2. Devadasis - Die Geschichte des klassisch Indischen Tanzes

Fast alle klassisch indischen Tanzstile, wie der Bharatanatyam, der Odissi, der Manipuri und der Mohiniyattam haben ihren Ursprung im Tempeltanz und somit der Tradition der Devadasis. Zahlreiche Statuen an den Tempeln und historische Berichte belegen dies. Lokale Herrscher dienten als Schirmherren und Unterstützer des jeweiligen Tempels, der Mittelpunkt des Gemeinschaftslebens war. Die Tempel preisten und dankten den Göttern mit sorgfältig durchdachten und kunstvollen Ritualen in Form von Gesängen und Tänzen. Insofern waren es zuerst die örtlichen Tempel, die die Kunstform Tanz unterstützen und förderten. Ausgewählte Tänzerinnen, die so genannten Devadasis (Deva= Gott, Dasi=Dienerin) widmete man den Göttern, indem sie im Alter von sechs Jahren symbolisch mit dem jeweiligen Gott des Tempels vermählt wurden. So war es ihnen einerseits nicht mehr erlaubt ein menschliches Wesen zu heiraten, anderseits konnten sie als Ehefrau eines unsterblichen Gottes niemals Witwen werden. Devadasis waren respektierte Frauen, die einen hohen Status in der Gesellschaft besaßen. Sie lebten in eigenen Bezirken, die dem Tempel oder dem König gehörten und bildeten in späterer Zeit eine eigene Kaste. Als „Dienerinnen der Götter” hatten sie viele Aufgaben zu erfüllen: beispielsweise gehörte das Arrangieren von Blumen, das An- und Auskleiden der Götterstatuen oder das Rezitieren von Gebeten zu ihren Aufgaben. Sie tanzten bei täglichen Ritualen und Zeremonien und anlässlich großer Tempelfeste. Danach begann ihre besondere Ausbildung bei den Brahmanen im Tempel. Die sechsjährige Ausbildung umfasste 64 Künste, zu denen u.a. Gesang, Rhythmuslehre und natürlich der Tanz gehörten. Mit der Ankunft fremdländischer Einwanderer im 16. Jahrhundert schwand die Macht der Königshöfe und der örtlichen Schirmherren. Die Tempel verloren die Unterstützung ihrer lokalen Herrscher. Die Künste wurden in diesem Zusammenhang an Ausführung und Entwicklung gehindert und damit entwertet.

Mit dem Beginn der britischen Kolonialmacht und der Einführung britischen Rechtes und viktorianischer Werte wurde der traditionelle Tanz vernachlässigt, sogar verpönt und die Praxis der Devadasis sollte durch Gesetze verbannt werden. Infolgedessen waren die Künste, die sich über Jahrhunderte entwickelt hatten, zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollkommen dezimiert, Tempel und ihre Bewohner vollends verarmt. Erst seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Zeit der Unabhängigkeitsbewegung, begannen Pioniere wie Rabindranath Tagore und andere wegbereitende Gurus, Tänzer und Kritiker, das reiche Erbe des Tanzes wieder zu beleben, neu zu definieren und zu sichern. Diese Vorreiter leisteten viel für das Ansehen des Tanzes und legten den Grundstein für den enormen Aufschwung der Kunstform nach der Unabhängigkeit Indiens 1947. Seitdem gibt es eine stetig wachsende Zahl von indischen Tänzern, Tanzlehrern, Studenten, Ensembles und Tanzsschulen in Indien.

3. Natyashastra - Grundlagen des klassisch Indischen Tanzes

Die Götter brauchten Unterhaltung. So baten sie Brahma, den Schöpfer des Universums, etwas gegen ihre Langeweile zu erschaffen. Brahma konnte mit der Hilfe von Saraswati, die Göttin der Kunst und Gelehrsamkeit, die Unterstützung des weisen Baratha Munis erlangen. Dieser schrieb das fünfte Buch der heiligen Veden bzw. Natyashastra, ein Leitwerk über Drama, Tanz und Musik. Die Götter waren begeistert und konnten von nun an unterhalten werden. Ferner stellte dies einen idealen Weg dar, die Götter auf Erden zu verkörpern und zu veranschaulichen. Durch das Medium des Tanzes und der Musik konnten die Menschen mehr Verständnis für die Begrifflichkeiten wie Gott und Teufel, moralisch und unsittlich, erhalten. Natyashastra gilt als Grundlage aller acht klassischen indischen Tänze. Verschiedene Wissenschaftler geben unterschiedliche Entstehungszeiten an, die von 300 v. Chr. bis 400 n.Chr. variieren. Diese Abhandlung legt einerseits die Regeln des Dramas fest, bestehend aus Rede, Pantomime, Tanz und Musik und definiert die technischen und ästhetischen Prinzipien. Anderseits gibt es genaue Anleitungen zur Architektur und der Gestaltung des Zuschauerraumes. So werden im Abschnitt über die Mimik die Bewegungen der Augen, der Augenbrauen, der Lider, der Lippen, Wangen und des Kinns äußerst präzise vorgegeben. Bereits die Blicke werden in 36 Formen eingeteilt, die durch sieben Möglichkeiten die Augenbrauen zu bewegen unterstützt werden. Darüber gibt es eine genaue theoretische Unterteilung in nritta, nritya und natya. Nritta ist der technische Aspekt im Tanz und natya der expressive. Die Verknüpfung derer ist nritya, was sich auf die gestige und dramatische Darstellung bezieht. Zu nritya gehört auch abhinaya, worunter die berühmten Handgesten, die mudras, und deren Ausführung, die so genannten hastas zählen. Die Anzahl der mudras wird im Natyashastra mit 64 angegeben. Mit Hilfe dieser „wortlosen Sprache” lassen sich sowohl konkrete Dinge wie etwa Farben oder Tiere, aber auch abstrakte Begriffe wie Wunsch oder Zukunft darstellen.

4. Literatur

  • Vatsyayan, Kapila: Indian Classical Dance, New Dehli, 1992.
  • Khokar, Ashish Mohan: Classical Dance, New Dehli ,2004.
  • Vatsyayan, Kapila: Classical Indian Dance in Literature and the Arts, New Dehli, 1968.